Choose your country / language

Beyond Surfaces Nr.4 - Materials Engineering Wie revolutionieren Materialien die industrielle Fertigung, und wo reduziert Big Data Zeit und Aufwand in der Werkstoffentwicklung? Das lesen Sie in der neuen Ausgabe unseres Kundenmagazins!

Beyond Surfaces Nr.4 - Materials Engineering

In der neuen Ausgabe von BEYOND SURFACES dreht sich alles um Materialien. Erfahren Sie, warum viele Innovationen aus unserem täglichen Leben nur dank neuen Materialien möglich wurden. Lesen Sie, welche Rolle Materialien in der additiven Fertigung spielen und warum die Kenntnis über die Entwicklung moderner Materialien der Schlüssel zum Erfolg sein kann.

Was fasziniert so viele Experten an dem Thema Materialien? Tauchen Sie ein in die Welt der Materialwissenschaft und erfahren Sie, wie moderne Werkstoffe und 3D-Druck helfen, das perfekte Stadtfahrrad zu entwickeln. Oder wie eine Studentengruppe dadurch ihren Traum verwirklicht, eine Rakete zu bauen, mit der sie einen neuen Höhenrekord aufstellen wollen. Auch die weltweit größte Gasturbinenprüfanlage profitiert von Oerlikons Kenntnissen und Technologien im Bereich Materialien.

Im Magazin blättern

Von Gerhard Waldherr

Das Berliner Gasturbinenprüffeld von Siemens PG ist eine weltweit einzigartige Anlage. In Zusammenarbeit mit Oerlikon Balzers gelang es nun, ihre Wasserreibungsbremse und damit ihre Leistungsfähigkeit weiter zu optimieren.

Ich denke, wir können in Zukunft sogar vom Faktor zwei bis drei für die Lebensdauer der Radscheiben ausgehen, im Idealfall noch höher.

Ayhan Cetin, Versuchsingenieur, Siemens

Berlin-Moabit, das legendäre Gasturbinenwerk in der Huttenstraße. Ayhan Cetin geht durch die Endmontagehalle. In der Mitte der Halle wird gerade ein Auftrag fertiggestellt: eine Turbine vom Typ SGT5-4000F. Was in wenigen Wochen vom nahegelegenen Westhafen aus in Richtung Naher Osten geht, ist eine gewaltige Hochleistungsmaschine, ein Meisterwerk von atemberaubender Eleganz.

Der Versuchsingenieur Cetin geht nun eine Treppe hinauf zu einer Galerie. Von dort blickt man auf einen von weißen Schallschutzwänden umstellten Bereich. Es ist das Gasturbinenprüffeld. Hier, so Cetin, werden aktuelle Produkte und neue Technologien »auf Herz und Nieren getestet«. Mehrere tausend Messpunkte liefern Informationen über Leistung, Effizienz, Wirkungsgrad, Abgaswerte und vieles mehr. Was hinter den Schallschutzwänden vor sich geht, kann ein Außenstehender bestenfalls erahnen. Was er von Cetin erfährt, ist, dass die Wasserreibungsbremse der Anlage dabei eine zentrale Rolle spielt.

Extreme Belastung, große Herausforderung

Die Wasserreibungsbremse besteht aus einem Stahlgehäuse, in dem ein aus mehreren Radscheiben bestehender Rotor betrieben wird. Das Material: ein niedriglegierter Stahl. Cetin kann stundenlang über die Wasserreibungsbremse erzählen. Wenngleich seine Ausführungen eher etwas für Experten sind. Etwa, wenn er über die Theorie der Grenzschichtreibung in turbulenter Strömung spricht. Vereinfacht gesagt: Durch hohe Scher- und Reibungskräfte wird thermische Energie erzeugt und vom Wärmeträger Wasser abgetragen. Abhängig von der regulierbaren Durchflussmenge und der wirkenden Reibfläche wird ein Drehmoment induziert, das die Lastaufnahme der zu testenden Gasturbine quantifiziert.

Cetin wurde 2010 Systemverantwortlicher für das System Wasserbremse im Berliner Gasturbinenprüffeld, dem größten seiner Art weltweit. Die Herausforderungen, die eine Anlage dieser Dimension mit sich bringt, sind gewaltig. Gerade die Wasserreibungsbremse ist extremen Belastungen ausgesetzt und muss häufig inspiziert werden, um einen störungsfreien Betrieb zu gewährleisten. Umso mehr freut es Cetin, dass die Wasserreibungsbremse kürzlich in Zusammenarbeit mit Oerlikon Balzers optimiert werden konnte. Dabei wurden die Radscheiben widerstandsfähiger gemacht. Das Verfahren: Plasmanitrierung. Das Produkt: BALITHERM IONIT. Das Ergebnis: Längere Inspektionsintervalle. Aber der Reihe nach.

Die Siemens AG ist eines der weltweit führenden Unternehmen im Bereich der Energiegewinnung. Gas- und Dampfturbinen bilden das Kerngeschäft des Technologiekonzerns. Um sein Portfolio definieren zu können, werden unter anderem Prototypen neuer Produkte und Technologien getestet. Entwicklungszeit und -kosten sind entscheidende Faktoren für die Wirtschaftlichkeit jedes Unternehmens. Eine hohe Verfügbarkeit des Gasturbinenprüffelds ist für Siemens PG daher von entscheidender Bedeutung.

In einem konventionellen Gasturbinenkraftwerk erfolgt die Abnahme der erzeugten Energie mittels Generator. Im Berliner Gasturbinenprüffeld ist das nicht der Fall. Dort kann keine dauerhafte Stromerzeugung garantiert und demnach nicht ins Stromnetz eingespeichert werden. Die mechanische Leistung der Gasturbine wird daher über die Wasserreibungsbremse in Abwärme umgewandelt. Sie ersetzt quasi den Generator und fängt die erzeugte Energie ab.

Wir sparen Kosten, Zeit und erhöhen die Performance des Testfeldes. Besser geht es nicht.

Ayhan Cetin*, Versuchsingenieur, Siemens

*Ayhan Cetin, geboren 1977, hat an der Technischen Universität Berlin Maschinenbau mit Fachrichtung Konstruktionstechnik studiert. Seit Januar 2008 ist er bei Siemens tätig und seit 2010 verantwortlich für die Wasserreibungsbremse im Gasturbinenprüffeld.

Größenvergleich zwischen Mensch und Maschine. 

Der horizontal gelagerte Rotor mit montiertem Turbinen-Austrittsgehäuse ist 10 m lang und circa 112 Tonnen schwer. Die SGT5-4000F-Gasturbine hat eine Leistung von 292 Megawatt.

Was schützt vor Korrossion und Kavitation?

Das Berliner Gasturbinenfeld wurde 1972 gebaut. Die Wasserreibungsbremse folgte 1975. Doch im Laufe der Jahrzehnte sind die Anforderungen an die Anlage stetig gestiegen. Zuerst markierten 100 Megawatt Gesamtleistung das Maximum für das Prüffeld. Heute liegt es bei 360 Megawatt. Nirgendwo außer bei Siemens in Berlin werden diese Werte erreicht.

Die größte Herausforderung war lange Zeit die Funktionalität der Radscheiben der Wasserreibungsbremse. Der verwendete Radscheibenwerkstoff ist korrosionsanfällig. Alleine der Kontakt mit Feuchtigkeit genügt zur Rostbildung. Rost wiederum begünstigt Kavitationen, die die Radscheiben stark beschädigen können. Cetin spricht von Zentrifugal- und Corioliskraft. Von enormen Turbulenzen im System. »In vielen Fällen«, so Cetin, »entsteht Kavitation durch hohe Strömungsgeschwindigkeiten. Bei zunehmender Geschwindigkeit nimmt der statische Druck der Flüssigkeit ab. Fällt er unter den Verdampfungsdruck, bilden sich Dampfblasen, die in der Strömung mitgerissen werden und schlagartig implodieren können. In diesem Fall bilden sich sogenannte Microjets, die mit hoher Geschwindigkeit und extremer Druckbeanspruchung Materialschäden verursachen.«

Kavitationen lösen Schwingungsprobleme aus, sogenannte Unwuchten, die den Betrieb der Wasserreibungsbremse beeinträchtigen können. Bei einem Ausfall mehrerer Radscheiben etwa kann sie nicht weiter betrieben werden. Und das Gasturbinenprüffeld steht. Die Scheiben können zwar mechanisch nachgearbeitet oder im schlimmsten Fall ausgetauscht werden. Häufige Inspektionen und hohe Wartungskosten wären aber die Folge. Es gab Zeiten, erzählt Cetin, in denen die Radscheiben nach relativ wenigen Betriebsstunden unbrauchbar waren.

Siemens und Oerlikon: Gemeinsam zur Lösung

Die ersten Vorgespräche zwischen Siemens PG und Oerlikon fanden im Herbst 2014 statt. Martin Fromme von Oerlikon Balzers sagt: »Das wirtschaftliche Ziel war eine signifikante Erhöhung der Lebensdauer der Radsätze.« 2015 wurden die ersten Tests und Grundsatzuntersuchungen an der Universität Clausthal durchgeführt. 2016 wurden die ersten Samplings erstellt. Beim Plasmanitrieren mit BALITHERM IONIT wird Stickstoff 0,2 Millimeter tief in den Stahl induziert. In der folgenden Testphase wiesen die nitrierten Bremsscheiben nach einem Plus an Betriebsstunden von 25 % keine Korrosion und keine Kavitation auf. Cetin: »Die Scheiben haben fast so ausgesehen wie am ersten Tag.« Anfang 2017 ging schließlich die erste Serie in Produktion.

Ende gut, alle zufrieden

Neun Monate später hat Ayhan Cetin immer noch keinen Grund zur Klage. Im Gegenteil. Kürzlich wurde eine Gasturbine über 180 Stunden getestet. Keine Kavitationsschäden, nicht einmal Korrosion. »Dabei«, so Cetin, »sind wir aktuell noch nicht einmal an die Verschleißgrenze gefahren. Ich denke, wir können in Zukunft sogar vom Faktor zwei bis drei für die Lebensdauer der Radscheiben ausgehen, im Idealfall noch höher.« Bei der Turbine, die gerade im Prüffeld liegt, ist Cetin ebenfalls zuversichtlich: »Ich gehe nicht von großer Wartung oder gar einem Austausch der Bremsscheiben aus.« Das heißt, die Zusammenarbeit von Siemens PG und Oerlikon war ein glatter Erfolg? »Wir sparen Kosten, Zeit und erhöhen die Performance des Testfeldes«, sagt Cetin, »besser geht es nicht.«

Ein deutsches Industriedenkmal

Die Fabrikanlage in Berlin-Moabit, insbesondere die 1909 fertiggestellte Gasturbinenhalle, ist ein international bekanntes Denkmal der Industriearchitektur. Der leitende Architekt Peter Behrens sollte die industrielle Bedeutung des Gebäudes nicht vertuschen, ihm aber gleichzeitig eine ästhetische, unverwechselbare Erscheinung verleihen. Das Ergebnis ist trotz seiner Riesenhaftigkeit von klarer Eleganz. Weitere Besonderheit: Ganz selten dient ein Fabrikgebäude über 100 Jahre lang seinem ursprünglichen Zweck. 2016 verließ die tausendste Gasturbine die Produktion.

keyboard_arrow_up